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Nürnberger, Christian: Die verkaufte Demokratie

Politik

Von tg

 

Diese totale Ökonomisierung der Welt ist das Unökonomischte, was man sich denken kann, denn sie macht Menschen kaputt, zerstört soziale Beziehungen, betreibt Raubbau an der Natur, schneidet die Armen von Bildung ab, verhindert eine gesunde Entwicklung von Kindern, generiert Kriege, Flüchtlingsströme, soziale Unruhen und Gewalt ..."

Man merkt gleich. Hier redet einer nicht um den heißen Brei herum. Zwei weitere Zitate: "Die Beherrschung der Welt durch kommerziell agierende Mächte trägt inzwischen totalitäre Züge, unter denen Regierungen zu ausführenden Organen dieser kommerziellen Mächte werden." – "Ich möchte nicht, dass wegen meines iPhones Kinder krank werden oder gar sterben. Ich möchte nicht mit dem Kauf eines Smartphones indirekt irgendwelche Warlords und Bürgerkriege in Afrika finanzieren. Ich möchte, dass ein starker Staat solche Dinge verhindert."

Doch die Hoffnung darauf, dass Politiker sich diesen Tendenzen entgegenstellen, hat der Publizist und freie Autor Christian Nürnberger aufgegeben. Politiker beugten sich – wie Manager – dem Zwang zum schnellen Erfolg, der Macht der "147 weltbeherrschenden Konzerne", einem schier undurchdringlichen, milliardenschweren Geflecht von Interessen, der über Medien, PR-Agenturen, Lobbyisten und Verbände auf sie ausgeübt wird.

Er hat es versucht, als SPD-Kandidat über seinen fränkischen Heimatkreis in den Bundestag einzuziehen, um neugestaltend tätig zu werden, scheiterte an geballter Funktionärsmacht und war um eine Illusion und Erkenntnis reicher: "Parteieintritt ist auch keine Lösung."

Was ist mit Wählern und Konsumenten? Der Gegendruck, den engagierte Bürger, Wissenschaftler, Natur- und Tierschützer ausüben, sei zu gering, schreibt Nürnberger, und daher nicht wahlentscheidend. "Die Masse der Wähler und Konsumenten hat andere Sorgen, verhält sich daher neutral, indolent, gleichgültig." Und doch: "Wir, die Bürger, sind es, die jetzt ranmüssen."

Nun beweist Nürnberger in seinem Buch "Die verkaufte Demokratie", dass er kein frustrierter Querulant ist, sondern jemand, der sich engagiert, der Bewusstseins- und Veränderungsprozesse anschieben will, dabei selbstkritisch bei sich selbst anfängt und auch den Humor nicht verloren hat, wie etwa die Geschichte von den "Büsumer Feinkost-Louisiana-Flusskrebsen", die aus China stammen, zeigt.

Worum also geht es dem Autor?

Im ersten Teil, "Dieses Land war mein Land", beschreibt er den Übergang von sozialer Marktwirtschaft in einen ungezügelten, freien Markt und totalen Wettbewerb, listet Verstrickungen und ungesunde Entwicklungen auf.

Im zweiten Teil, "Hol dir dein Land zurück", wertschätzt er die großen zivilisatorischen Errungenschaften der Neuzeit, die es zu bewahren gilt. Betont, die Welt sei besser als ihr Ruf, unterstreicht die Bedeutung von Gemeinwohl, Selbstständigkeit und Vernetzung, stellt Lösungen, (grüne) Projekte und (regionale) Kooperationen, z. B. mit folgender Ausrichtung, vor: "Verdrängung von Fremdherrschaft, Etablierung von Volkswirtschaft, Gestaltung der europäischen Zukunft durch die Bürger von Europa."

Amazon, Apple, Facebook, Google, "Bad Banks", Atomstrom, Massentierhaltung, konventionelle Landwirtschaft – es gibt Alternativen. Und mit ihnen die Möglichkeit, ethischen Maßstäben und Grundrechten Priorität einzuräumen, Datensammelwut, Kontrolle und Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur so weit wie möglich zu entgehen und zu verhindern. Selbst, wer NSA und anderen Geheimdiensten die Überwachung schwer machen will, kann dies tun. Mit dem Datenschutzhandy Blackphone, der Metasuchmaschine MetaGer oder dem E-Mail-Postfach von Posteo  beweißen Unternehmen, dass der Markt eben doch funktionieren kann.

Nürnberger entwirft keinen Masterplan für die Weltrettung, er appelliert an jede/n Einzelne/n, aktiv zu werden, denn: "Sobald eine bestimmte kritische Masse erreicht ist und ich Teil dieser kritischen Masse bin, ist meine private Konsumentenentscheidung nicht mehr privat, sondern politisch." Und: "Zukunft ist kein Schicksal, ist nicht etwas, das uns widerfährt und ohnmächtig hinzunehmen ist [...] Sie hängt von uns ab, unseren Entscheidungen, unserem Verhalten [...] Wir können auch alles wieder verspielen, was wir erreicht haben."

Ein mitreißendes Buch, authentisch, inspirierend und aufrüttelnd. Von einem, der "bodenständig" berichtet und es nicht bei theoretischer "Besserwisserei" belässt.

"Die verkaufte Demokratie – Wie unser Land dem Geld geopfert wird" von Christian Nürnberger, Ludwig Verlag, 368 Seiten.

Die Diktatur der Ökonomie beenden – Das ZEITENWENDE-Interview

Christian Nürnberge ist als Publizist und freier Autor u. a. für DIE ZEIT und die Süddeutsche Zeitung tätig. Im ZEITENWENDE-Interview spricht er über sein Buch "Die verkaufte Demokratie", über Politik, Macht und Datenschnüffelei, alternative Projekte, Spiritualität, Visionen und "wie unser Land dem Geld geopfert wird".  Von tg

ZEITENWENDE: Herr Nürnberger, erklären Sie den Leserinnen und Lesern der ZEITENWENDE kurz den von Ihnen in Ihrem Buch "Die verkaufte Demokratie" beschriebenen Prozess, der Zusammenhalt und friedliches Zusammenleben gefährdet.

 

Nürnberger (Foto: © Kay Blaschke): Nach dem Fall der Mauer wurden Regeln geändert. Bis 1989 hatten wir in Deutschland und vielen europäischen Ländern eine Ordnung, die den Namen "soziale Marktwirtschaft" verdiente. Vom Erwirtschafteten sollten alle profitieren, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, der Staat und diejenigen, die zu jung, zu alt oder zu krank sind, um Produktives beizutragen. Dieser Konsens wurde nach 1989 von den Kapitaleignern gekündigt. Unter dem verschleiernden Begriff des "shareholder-value" hieß es nun: Alles für den Aktionär, und für den Rest die Brosamen, die vom Tisch fallen. Arbeitgeber, Investoren, Aktionäre diktierten nun: Wenn ihr nicht bereit seid, für weniger Geld zu arbeiten, investieren wir eben in Osteuropa und Asien, wo wir willige und billige Arbeitskräfte finden. Wenn du, Staat, nicht bereit bist, die Steuern zu senken und für ein investitionsfreundliches Klima zu sorgen, wandern wir aus.

 

ZW: Setzen Sie sich damit nicht der Kritik aus, ein "Ewiggestriger" zu sein, der sich Fortschritt und neuen globalen "Gesetzen des Marktes" verweigert?

 

Nürnberger: Die Kritik mag es geben, aber das Gegenteil ist richtig. Was wir gerade erleben – die Unterwerfung der gesamten Welt unter die Gesetze des Marktes und als Folge davon die Rücknahme sozialer Errungenschaften und gesellschaftlicher Fortschritte – das ist der wahre Rückschritt. Und dem muss man sich verweigern.

 

ZW: Als Sie im Jahr 2013 für die SPD für den Bundestag kandidierten, haben Sie erkannt, dass es keinen Sinn mehr hat, auf die Politiker zu hoffen. Warum hat Sie die Politik derart desillusioniert?

 

Nürnberger: Ich musste erkennen, dass die Lösung unserer Probleme nicht das primäre Ziel von Parteipolitikern ist. Ihr Ziel ist vielmehr die Wiederwahl. Es geht primär um Machtgewinnung, Machterhalt, Machtausbau. Dafür verwenden sie 80 bis 90 Prozent ihrer Hundertstundenwochen. Die restlichen zehn Prozent reichen gerade noch, um von Krisenherd zu Krisenherd zu eilen und dort die Feuer zu löschen. Für Zukunftsgestaltung, für Nachdenken, für die Erarbeitung langfristiger Lösungen bleibt nichts übrig.

 

ZW: Wer hat denn nun die Macht im Lande? Und können wir dieser Macht unser Vertrauen schenken?

 

Nürnberger: 1998 hat auf einer Party in einem der höchsten Hochhäuser Deutschlands der damalige Dresdner-Bank-Vorstand Ernst-Moritz Lipp mit Blick auf rund 500 feiernde Finanzstrategen und Topleuten aus der Wirtschaft gesagt: "Deutschland ist ein Supertanker, aber im Führerhäuschen sitzt nicht der Bundeskanzler, sondern da sitzen die Leute, die hier auf dem Podium sind!" Das war eine Programmansage, und dieses Programm wird seitdem durchgezogen.

 

ZW: Was würden Sie sofort verändern, wenn Sie morgen an der Macht wären?

 

Nürnberger: Die Diktatur der Ökonomie beenden, die Demokratie und soziale Marktwirtschaft wieder einführen und dann abdanken.

 

ZW: Was ist mit Big Data, Überwachung, Staatsverschuldung, Flüchtlingen, Umweltzerstörung?

 

Nürnberger: Zu Big Data

 

Dieses Milliarden-Business dürfte es eigentlich gar nicht geben, denn es beruht auf dem täglichen Verstoß gegen unser Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dagegen müsste unser Verfassungsschutz einschreiten. Aber da es bei Big Data scheinbar nicht um Politik, sondern nur um Geschäfte geht, fühlt sich der Verfassungsschutz nicht zuständig. Wenigstens müsste dann aber die Polizei einschreiten, die ja jeden kleinen Drogendealer und sogar Haschischkonsumenten verfolgt. Genauso müsste sie die Datendealer verfolgen. Tut sie aber nicht. Der Staat ist also entweder unfähig oder nicht willig, gegen die Big Player des Datenschnüffeleigeschäfts vorzugehen.

 

Zur Überwachung

 

Da wundert mich, dass es keinen neoliberalen Aufstand geht. Für den Neoliberalen ist der Staat doch das große Markt- und Wettbewerbshindernis, daher der neoliberale Schlachtruf nach "mehr Markt und weniger Staat". Aber auf dem Sektor der Überwachung haben wir so viel Staat wie noch nie. Da schweigen die Neocons und Neoliberalos – warum? Weil in Wahrheit große Teile von ihnen schon immer am Tropf des Staates hängen. Die ganze Forschung und Entwicklung in der Hightech-Industrie des Silicon Valley ist doch vor allem vom Pentagon und den Geheimdiensten finanziert worden und wird von diesen immer noch weiter finanziert. Damit erweist sich die ganze neoliberale Silicon-Valley-Ideologie nicht nur als demokratiezerstörend, sondern auch noch als verlogen.

 

Zur Staatsverschuldung

 

Diese beruht zu einem nicht geringen Teil auf Steuerhinterzieherei in großem Stil und auf der Legalisierung des Steuerbetrugs durch Politiker wie Jean-Claude Juncker.

 

Zu den Flüchtlingen

 

Das Problem ist inzwischen unlösbar geworden. Ließen wir alle unkontrolliert herein, die herein möchten, hätten wir weder genügen Wohnungen, noch genügend Arbeitsplätze für alle. In unseren Städten entstünden Slums. Das kann niemand wollen. Halten wir sie draußen, wie bisher, ertrinken sie im Mittelmeer. Das kann erst recht niemand wollen. Steuern wir die Zuwanderung nach ökonomischen Prinzipien – die Brauchbaren und Tüchtigen lassen wir herein, die anderen müssen draußen bleiben – verschlimmern wir die Probleme der armen Länder, denen die Qualifizierten davonlaufen. Also was immer wir tun – es ist falsch. Ergebnis einer jahrzehntelang verfehlten Entwicklungspolitik. Diese zu korrigieren, wird mindestens zehn Jahre dauern. Während dieser Zeit müssen wir und die Flüchtlinge mit der Unlösbarkeit des Problems lösen. Mein Vorschlag wäre ein Marshallplan für die Flüchtlinge. In jeden Flüchtling investiert die EU 100.000 Euro. Dafür bringen wir ihm die Sprache bei und bilden ihn so aus, dass er schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden kann und auf eigenen Füßen steht. So bald er eigenes Geld verdient, zahlt er das Geld in kleinen Raten bis zu einem Betrag von 50.000 zurück. Den Rest erlassen wir ihm.

 

Zur Umweltzerstörung

 

Sie wird so lange weitergehen, wie wir auf ungebremstes Wachstum setzen und es uns egal ist, was wächst und wir unerwünschtes Wachstum nicht besteuern oder in die Produkte einpreisen. Wir hätten längst eine andere Landwirtschaft, wenn die Politiker den Mut gehabt hätten, Kunstdünger, Pestizide, Massentierhaltungsfleisch, Käfighuhn-Eier so zu besteuern, dass von den Steuereinnahmen die Umwelt- und Gesundheitsschäden bezahlt werden könnten. Die angeblich so unrentable Öko-Landwirtschaft würde dadurch auf einen Schlag rentabel. Entsprechend könnte man in allen anderen Branchen mit Steuern gegensteuern.

 

ZW: Brauchen wir ein generalüberholtes System oder ein neues?

 

Nürnberger: Ich wäre schon froh, wenn wir die nötigsten Reformen – Schluss mit dem Überwachungsstaat, Verbot der Datenschnüffelei des Big-Data-Business, Re-Regulierung der Finanzmärkte, Transaktionssteuer, höhere Eigenkapitalquoten für Banken, angemessene steuerliche Beteiligung der Global Players an den Gemeinkosten des Staates, Besteuerung unerwünschten Wirtschaftswachstums, mehr Transparenz in den Parteien, Wiedereinsetzung des Primats der Politik über die Wirtschaft usw.- hinbekämen. Also kurz gesagt: Mit der Rückverwandlung unserer marktkonformen Demokratie in ein soziale Demokratie und die Umformung unserer diktatorischen Wirtschaft in eine demokratiekonforme wäre ich schon sehr zufrieden.
 
ZW: Werden wir als Staatsbürger, Arbeitnehmer und Konsumenten ernst genommen oder für dumm verkauft?

 

Nürnberger: Wenn sich der Staatsbürger, Arbeitnehmer und Konsument für dumm verkaufen lässt, dann wird er für dumm verkauft.

 

ZW: "Im Flow, im Stress oder ausgebrannt"? Was kommt Ihnen dabei spontan in den Sinn?

 

Nürnberger: Der Kapitalismus ist ein System, in das der Zwang zur Totalverwertung eingebaut ist, die Totalverwertung des Planeten, aber auch die des Menschen. Wenn dieser Verwertungsmaschine von keinem Steuermann mehr Grenzen gesetzt werden, wird diese Maschine so lange alles verwerten, bis es nichts mehr zu verwerten gibt. Dann ist die Menschheit am Ende. Wenn ihr das wurscht ist, wird es darauf hinauslaufen.

 

ZW: Was fällt Ihnen zu den Begriffen "Egoismus", "Geiz ist Geil", "Ohnmacht", "Gleichgültigkeit", "Gerechtigkeit" ein?
 
Nürnberger: Der Egoismus gilt ja bei uns im Westen als geadelt, seit ein Philosoph des 17. Jahrhunderts behauptet hat, es sei möglich, ein System zu konstruieren, das unabhängig vom Charakter der handelnden Personen funktioniere und sogar dann, ja gerade dann automatisch das Gemeinwohl produziere, wenn allesamt rücksichtslos, selbstsüchtig und egoistisch ihre eigenen Ziele verfolgten. "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen", lautet der erste Glaubensartikel des kapitalistischen Systems, formuliert von Adam Smith, einem schottischen Moralphilosophen, in seinem berühmten Buch Wohlstand der Nationen.

 

Mögen die Metzger, Brauer, Bäcker im Privatleben auch allesamt Schufte sein, lehrte Smith, auf dem Markt unterliegen sie Gesetzen, von denen sie sofort bestraft würden, wenn sie versuchten, ihren Kunden schlechte Ware zu überhöhten Preisen und mit rüpelhaftem Verhalten anzudrehen. Deshalb sind sogar schlechte Charaktere gezwungen, quasi wider ihre Natur, beste Produkte zu günstigstem Preis möglichst freundlich an den Mann zu bringen. Und dieser Mechanismus funktioniere am besten, wenn von außen, etwa durch den Staat oder andere Mächte, möglichst nicht eingegriffen wird. Gerade dadurch, dass jeder sein eigenes Interesse verfolgt, fördere er das Wohl der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigte, es zu tun, behauptete Smith.

 

Mit vielen Liberalen teile ich die Überzeugung, dass Adam Smith hier eine epochemachende Wahrheit entdeckt hat, die eine Ursache des Erfolgs des Kapitalismus und unseres Wohlstands ist. Der Kapitalismus funktioniert, weil er mit dem Menschen arbeitet, wie er ist, und nicht wie er sein soll. Auf den Menschen zu setzen, wie er sein soll, wurde im Kommunismus versucht. Daher musste er gewaltsam umerzogen werden, aber alle Gewalt, Bespitzelung und Gängelei hat nichts geholfen. Nach siebzig Jahren scheiterte das Experiment an der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur.

 

Smiths Prinzip dagegen funktionierte, und tut es unter bestimmten Bedingungen noch heute, sogar auf globalisierten Märkten, wo Menschen, die sich nicht kennen, keine gemeinsame Sprache sprechen und unterschiedlichsten Religionen und Weltanschauungen anhängen, dennoch zum Vorteil aller Beteiligten miteinander agieren. Aber die Betonung liegt auf "unter bestimmten Bedingungen“", und da beginnt meine Kritik des neoliberalen Glaubens an den Segen des Egoismus.

 

Smith, dieser Mann des frühen 18. Jahrhunderts, war davon ausgegangen, dass jeder Marktteilnehmer bei der Verfolgung seines wirtschaftlichen Vorteils erstens auch auf seine Kaufmannsehre und sein Ansehen in der Gesellschaft bedacht sei und sich zweitens an geschriebene und ungeschriebene Gesetze halte. Das erschien ihm so selbstverständlich, dass er es gar nicht extra erwähnte.

 

Eine dritte Bedingung hatte er selbst formuliert: dass die Marktteilnehmer keine Preisabsprachen verabreden und keine Kartelle und Monopole bilden dürfen. Darüber zu wachen, sei Aufgabe des Staates, sagte Smith. Eine vierte Bedingung hatte er übersehen: dass die Marktteilnehmer einander ebenbürtig und annähernd gleich stark sein müssen, wenn sich aus dem freien Spiel der Kräfte wie durch Zauberhand das Gemeinwohl ergeben soll.

 

Das ist aber so gut wie nie der Fall. Es gibt nicht, wie bei einem Fußballspiel, einen Anfang mit für allen gleichen Bedingungen, und diejenigen, die gegeneinander antreten, gehören auch nicht allesamt derselben Liga an. Der Schwache unterliegt sofort. Der Mittelstarke spielt eine Weile mit und wird dann geschluckt oder scheidet aus. Ein paar starke bleiben übrig, manchmal nur einer.

 

Wenn es so wäre, dass ein freier Markt von sich aus Wohlstand und Gemeinwohl schaffen würde, dann dürfte es zwischen marktwirtschaftlich organisierten Ländern kaum ein Wohlstandsgefälle geben. Es gibt aber ersichtlich große Unterschiede zwischen England, Frankreich, Deutschland, Polen, Japan, Brasilien, Argentinien, Indien, den USA und so fort. Wir haben innerhalb der EU ein Wohlstandsgefälle und wir haben es sogar innerhalb der einzelnen Länder. Italiens Norden ist relativ wohlhabend, Italiens Süden relativ arm. Südbayern und das Rhein-Main-Gebiet prosperieren, Länder wie Bremen oder das Saarland gehen an der Krücke.

 

Verteidiger der Marktwirtschaft wissen sofort eine endlose Folge von Gründen ins Feld zu führen, warum das Wirken des unsichtbaren Händchens nicht überall gleichermaßen segensreich ausfällt: andere Mentalität, schlechteres Bildungssystem, unfähige Regierung, geographische Benachteiligung, schlechtes Klima, historische Altlasten, unterentwickelte Infrastruktur, ungeklärte Rechtsverhältnisse, instabile Währung, ineffiziente Verwaltung, korrupte Justiz, zu hohe Steuern, zu wenig Forschung, starre Klassenschranken, Nepotismus, dauerhafte Innovationsschwäche, religiöse Einflüsse und so weiter und so weiter.

 

Stimmt alles. Nur: Die Aufzähler dieser Litanei merken gar nicht, wie sie mit jedem weiteren Grund, den sie anführen, ihr Marktargument immer weiter schwächen. Die Litanei bestätigt, was jeder Sozialdemokrat schon immer gewusst hat: Marktwirtschaft und Wettbewerb sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Es braucht dazu auch noch all das, was in der Litanei steht und sogar noch ein paar Posten mehr, die gern vergessen werden: Familien, die sich umeinander kümmern, die Erziehungs- und Betreuungsarbeit von Eltern und Großeltern, die häusliche Pflege. Es braucht die vielen freiwillig Engagierten, die sich für Gotteslohn ums Gemeinwohl kümmern. Es braucht eine kritische Presse, die Alarm schreit, wenn Korruption, Monopole, Misswirtschaft und Politikversagen überhand nehmen. Es braucht Kirchen und Vereine, in denen unterschiedlichste Menschen einander kennenlernen und vertrauen. Und es braucht starke Gewerkschaften, die dafür sorgen, dass Produktivitätsgewinne einigermaßen gerecht verteilt werden und damit für Kaufkraft sorgen.

 

Aus all diesen Gründen ist die neoliberale Verklärung des Egoismus ein hanebüchener Unsinn, der sich noch steigert, wenn der egoistische Kaufmann auf einen geizigen Konsumenten trifft, der alles immer noch billiger haben will. Dann führt die Logik des Marktes in den Wahnsinn der Massentierhaltung und der industriellen Zerstörung der Umwelt durch die Landwirtschaft. Dem Geiz-ist-geil-Charakter, der jedem Schnäppchen nachjagt, sind diese Zusammenhänge egal. Dieser Geiz und diese Gleichgültigkeit arbeiten Hand in Hand mit dem Egoismus der Kaufmanns und dessen Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen seines Handelns, und das führt uns in eine Zukunft, die am Ende niemand gewollt haben wird. Diese Zusammenhänge zu erkennen, aber nicht eingreifen zu können, das löst bei den Erkennenden tatsächlich Ohnmachtsgefühle aus, die einen in die Resignation treiben können.

 

ZW: Was sind realistische Schritte, selbst etwas aktiv zu ändern? Welche alternativen Projekte, Initiativen, Unternehmen können wir unterstützen?

 

Nürnberger: Es gibt zahlreiche Möglichkeiten. Wer seinen Amazon-Account kündigt, verhindert, dass ein einziger Weltkonzern demnächst allein bestimmt, was gedruckt und gesendet wird und zu welchen Bedingungen. Wer zu einer Genossenschaftsbank wechselt, entzieht den Großbanken die Systemrelevanz. Wer unterprivilegierten Kindern vorliest, mit ihnen Lesen und Schreiben übt und sich mit ihnen über das Gelesene unterhält, verhilft ihnen zur wichtigsten Kompetenz, die es gibt und Voraussetzung für alles weitere ist: Sprache. Wer Bio- und Regionalprodukte bevorzugt oder gleich zum Vegetarier oder Veganer wird, zwingt Agrobusiness und Lebensmittelverhunzungsindustrie zum Umdenken, erleichtert Politikern, sich der Macht der Lobbyisten zu entziehen.

 

ZW: Was verstehen Sie unter "grüner Energie in Bürgerhand"?

 

Nürnberger: Grüne Technik – Solardächer, Windräder, Blockheizkraftwerke etc., Biogas – ist eine Befreiungstechnologie. Mit ihr ist es möglich, uns gleich vierfach zu befreien: von der Atomkraft, von Putins Gas und dem Öl der Scheichs, von den großen Energiekonzernen und von den Klimakillern Öl, Gas und Kohle. Zugleich ermöglicht die grüne Technik die Abkehr von zentraler Energieversorgung. Diese kann jetzt lokal, regional, dezentral von Kommunen, Dorfgemeinschaften, ja sogar von einzelnen Bürgern selbst organisiert werden. Deshalb plädiere ich für grüne Energie in Bürgerhand.

 

ZW: Welche Bedeutung für positive Veränderungen kommt in der heutigen Zeit Religion, Spiritualität und Bewussstseinsentwicklung zu?

 

Nürnberger: Wenn Religion und Spiritualität durchs Hirn und durchs Herz gehen, sind sie eine starke Quelle für die Veränderung der Welt zum Positiven. Wenn sie Herz und Hirn umschiffen, werden sie zu einer Plage.

 

ZW: Wie sieht Ihre persönliche Vision für ein harmonisches, gerechtes Miteinander auf einem "gesunden" Planeten Erde aus?

 

Nürnberger: Meine Kinder träumen davon, eines Tages gefahrlos das ganze Mittelmeer umrunden zu können und dabei durch eine einzige Zone des Friedens und des Wohlstands zu kommen, in der Menschen aus unterschiedlichsten Religionen und Kulturen freundlich miteinander leben und arbeiten. Diesen Traum mache ich mir zu eigen, und wenn es genügend Menschen gibt, die das auch tun und bereit sind, das dafür Nötige zu tun, bleibt es kein Traum.